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Nathan Beer

Spieglein, Spieglein and der Wand ...

Aktualisiert: 2. Juni 2020

Die Bilder gehen um die Welt. George Floyd auf dem Boden, unter den Knien eines unbarmherzigen Polizeibeamten. Keuchend gibt er zu verstehen, dass er nicht atmen kann, fleht um sein Leben - vergeblich. Stunden später ist er tot.

Wir sind entrüstet, treten forsch als Kläger auf: "Wie kann er nur?", erinnern uns an die zahlreichen Geschichten aus Amerika, die alle so ähnlich tönen - während doch irgendwie alles so weit weg ist. Auf der anderen Seite des Teiches, halt. Wie gut komme ich mir in diesen Momenten vor! Ich - ich bin anders. Ich weiss es besser.


Flashback. In meinen Händen das Buch des ehemaligen Erzbischofs Desmond Tutu, Vorreiter im Kampf gegen das Apartheitsregime in Südafrika. In grossen Buchstaben der Titel:"Keine Zukunft ohne Vergebung", daneben das Konterfei des emeritierten Kirchenoberhauptes. Schwarze Hautfarbe. Ich öffne gespannt das Buch und lese die ersten Zeilen, als sich etwas plötzlich in mein Bewusstsein drängt, mir einen Schauer über den Rücken jagt. Scham ergreift mich, Unglaube, ich lege das Buch in meinen Schoss. Kann das sein? Mit einem Mal sind Ahmed Aubrey, George Floyd und all die anderen rassistisch motivierten Morde in den USA ganz nah. Unangenehm nah. Ich sehe etwas in mir. Eine Zurückhaltung. Eine Skepsis, wie ich sie beim Lesen von weissen Autoren nicht kenne. "Was erwartet mich in diesem Buch? Es wird kaum auf dem gleichen intellektuellen Niveau sein wie bei Wright. Oder Brueggemann. Er ist ja schwarz ..." Aussagen, die so nicht explizit in meinen Gedanken ausformuliert sind. Aber sie sind hier. In meinen Erwartungen. In meinem Unterbewusstsein. Rassismus. Hallo Spiegelbild, du hast dich gut versteckt.

Ich bin nicht besser, nicht wahr? Bin nicht anders.


Zurück in der Gegenwart. Mit Tränen in den Augen höre ich Dr. Anita Phillips zu, wie sie über den Schmerz der Afro-amerikanischen Bevölkerung spricht. Über eine Mentalität, in der Opfer nicht ernstgenommen werden und über eine weisse Kirche, die zu oft darüber hinweggeschwiegen hat. So viel hat sie zu sagen, diese Frau. Dinge, die mir nicht bewusst waren. Dinge, die mich zum Nachdenken anregen. Sie spricht vom "kulturellen Gedächtnis" - gesellschaftliche und kulturelle Erinnerungen, die unser Glaubenssystem und unser Weltbild massgeblich prägen. Diese Erinnerungen sind weder ausgesprochen noch niedergeschrieben, werden aber von Generation zu Generation weitergegeben. Dr. Phillips erzählt von einem nigerianischen Besucher, der seine eigene Kultur in einer Afro-amerikanische Kirche wiedererkannte:

"Eure Lieder haben bekanntes Gedankengut - Sie zeugen aber auch von einer Traurigkeit, die wir nicht kennen."

Über Generationen erhielt sich nach dem Dafürhalten von Dr. Phillips in dieser Gemeinschaft eine Art "afrikanische" Identität - trotz Entwurzelung und Misshandlung. Wie viel mehr hielt sich dann bei uns die andere Seite der Münze? Wie fest hat sich die über Generationen andauernde Entmenschlichung von Menschen anderer Herkunft in unser kulturelles Gedächtnis eingebrannt? Diese diffusen Vorurteile, die man nicht benennen kann und die doch immer wieder unser Handeln bestimmen. Phänomene wie die, in einer von Dr. Phillips erwähnten Studie, in der Kindergartenlehrer Kinder schwarzer Hautfarbe genauer auf Fehlverhalten hin beobachtet hatten als jene mit weisser Hautfarbe. Oder dieser Momenten, in dem ich das Buch von Desmond Tutu auf meinen Schoss sinken liess.


Es reicht nicht, wenn ich mich entrüstet als Ankläger erhebe und dabei in Selbstgerechtigkeit schwelge. Die Geschehnisse in den USA sind vielmehr Anlass, ehrlich und ernsthaft in den Spiegel zu blicken. Ich muss mir persönlich die Frage stellen: wie gehe ich mit meinem belasteten "kulturellen Gedächtnis" um? Letztlich ist es die Frage nach dem Umgang mit Bösem schlechthin. N.T. Wright sagt dazu (Evil And The Justice Of God, S.98, Aus dem Englischen):

"Die Suche nach einer Lösung ist nicht die Suche nach einer intellektuell befriedigenden Antwort auf die Frage, warum das Böse existiert. Es ist vielmehr die Suche nach Wegen, wie die heilende und wiederherstellende Gerechtigkeit des Schöpfergottes (...) in unserer Welt aus Raum, Zeit und Materie und in der unordentlichen Realität von menschlichen Leben und Gesellschaften sichtbar gemacht werden kann."

Ja, wie kann also die heilende und wiederherstellende Gerechtigkeit Gottes in unserer Welt sichtbar werden? In der Welt von Ahmed Aubrey, George Floyd und so vielen anderen? Und in meiner Welt? In der Schweiz? Wo ich mir eingestehen muss: "Ich bin nicht besser. Bin nicht anders"? Das ist die Frage, mit der uns die biblische Geschichte konfrontiert. Sie weist uns einen Weg - einen Weg, den uns der Gott der Bibel selbst schon vorausgegangen ist. Und sie stellt uns vor die herausfordernde und doch lohnende Aufgabe, diesen Weg, diese Geschichte zu leben. Hier. Heute. Denn so will Gott seine Wiederherstellung, seine Gerechtigkeit sichtbar machen. In und durch uns, ein Vorgeschmack der von Gott erneuerten Schöpfung. Im Kleinen - aber auch im ganz Grossen.


Ich realisiere - ich stehe am Anfang.

 

Den Talk von Dr. Anita Phillips und Christine Caine findest du HIER



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